Modell Lotsendienste
Eine entscheidende Rolle in der strukturierten Zusammenarbeit des Gesundheitssystems mit Angeboten der Frühen Hilfen aus der Kinder- und Jugendhilfe nehmen Lotsendienste ein. Sie schließen so eine bedeutsame Lücke in der Präventionskette. Bundesweit sind verschiedene interdisziplinäre Modelle zu Lotsendiensten entstanden.
Die Mission der BAG Gesundheit & Frühe Hilfen ist u.a. die flächendeckende Regelfinanzierung von solchen Lotsendiensten rund um die Geburt.
Lotsendienste rund um die Geburt
Ziel eines Lotsendienstes ist das systematische und frühzeitige Erkennen sowie die Kontaktaufnahme zu Familien mit psychosozialer Belastung rund um die Geburt und bei Bedarf eine passgenaue Überleitung in Hilfs- und Unterstützungsangebote. Durch ein systematisches, strukturiertes und frühzeitiges Erkennen werden bei allen Familien mögliche Belastungsfaktoren für die Kindesentwicklung in den Blick genommen. Im Rahmen eines vertiefenden freiwilligen Gespräches durch qualifiziertes Personal wird der mögliche Unterstützungsbedarf geklärt und gegebenenfalls in passgenaue Angebote u.a. aus dem Bereich des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe niedrigschwellig „gelotst“. Der freiwillige Aspekt und die damit verbundene Stärkung der Steuerungskompetenz sind ein wesentliches Merkmal aller etablierten Lotsendienste.
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) hat in einem Eckpunktepapier 14 zentrale Qualitätskriterien für Lotsendienste der Frühen Hilfen in Geburtskliniken veröffentlicht.
Welche Mindestkriterien sollten erfüllt sein, um von einem Lotsendienst Frühe Hilfen in Geburtskliniken sprechen zu können? Das vorliegende Eckpunktepapier enthält dazu 14 zentrale Qualitätskriterien als Ergebnis eines umfassenden Arbeitsprozesses. Grundlage stellt eine Recherche des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) im Auftrag des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) dar zu derzeit in Deutschland implementierten Lotsendiensten.
Das Konsenspapiers soll Impuls und Grundlage für die Einrichtung, Weiterentwicklung und Profilierung von Lotsendiensten der Frühen Hilfen sein.
Die Qualitätskriterien auf einen Blick:
1. Die Klinikleitung und die kommunale(n) Spitze(n) befürworten den Lotsendienst.
2. Der Lotsendienst ist konzeptionell abgesichert.
3. Der Lotsendienst kann optional von der Klinik oder von einer kooperierenden klinik-externen Institution getragen werden.
4. Es findet eine (strukturelle) Vernetzung mit dem Netzwerk/den Netzwerken Frühe Hilfen statt.
5. Der Lotsendienst wird von einer Fachkraft durchgeführt, die über eine psychosoziale, pflegerische oder medizinische Grundqualifikation verfügt und
eine aufgabenspezifische Qualifizierung/Schulung erhält.
6. Es werden gezielte Maßnahmen zur niedrigschwelligen Schulung der kooperierenden Akteure innerhalb der Klinik (insbesondere Hebammen, Pflegekräfte,
Ärztinnen und Ärzte) durchgeführt.
7. Es sind definierte Kommunikations- und Informationswege der klinikinternen und -externen Partner vorhanden.
8. Es findet eine klare Differenzierung zwischen den präventiv, freiwillig ausgerichteten Frühen Hilfen und dem Handeln bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung statt.
9. Das Angebot ist für die Familien kostenlos.
10. Der Lotsendienst in der Geburtsklinik erfüllt, bezogen auf die Familie, die drei Kernaufgaben Erkennen von Belastungsfaktoren und Ressourcen, vertiefendes Gespräch und bei Bedarf Überleitung in Unterstützungsangebote.
11. Die Einschätzung von Unterstützungsbedarfen findet systematisch, objektiv und vorurteilsfrei mit allen Frauen statt und basiert nicht auf Vorannahmen.
12. Es wird ein qualifiziertes/strukturiertes Verfahren der Belastungseinschätzung eingesetzt, das sich an den Grundprinzipien Freiwilligkeit, Stigmatisierungsfreiheit, Transparenz und Partizipation orientiert.
13. Zur Wahrnehmung und Einschätzung der Unterstützungsbedarfe werden unterschiedliche Perspektiven der Professionen im Krankenhaus zusammengeführt.
14. Die Arbeit des Lotsendienstes wird regelmäßig ausgewertet (Monitoring).
Hintergrund
Kinder, die in armen und bildungsfernen Verhältnissen aufwachsen, haben eine signifikant geringere Chance auf eine erfolgreiche schulische und berufliche Ausbildung. Nur ca. 50% der betroffenen Kinder erhalten einen Schulabschluss. Auch ihre gesundheitliche Entwicklung ist schlechter als die von Kindern aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status (Noble, Kimberly G. et al., 2012).
- Psychosoziale Belastungen können einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit eines Kindes haben.
- Diese möglichen negativen Konsequenzen des familiären Sozialstatus betreffen ca. 21% der Kinder in Deutschland.
- Eltern, die am meisten von Unterstützungsmaßnahmen profitieren könnten (z.B. Familien mit einem geringeren Bildungsgrad oder sozioökonomisch benachteiligte Familien), nehmen entsprechende Angebote (z.B. der Frühen Hilfen) weniger in Anspruch (Präventionsdilemma).
Warum Lotsendienste?
- Je früher psychosoziale Belastungen erkannt und passgenaue Unterstützungsmöglichkeiten angeboten bzw. genutzt werden, desto größer sind die Chancen, Fehlentwicklungen bei Kindern entgegenzuwirken und die Weichen für eine gesunde Entwicklung zu stellen.
- 98 % aller Kinder in Deutschland kommen in Geburtskliniken zur Welt. Vorsorgeuntersuchungen in Schwangerschaft und früher Kindheit werden von fast allen Familien in Anspruch genommen. Geburtskliniken und Arztpraxen sind daher geeignete Orte, um Unterstützungsbedarf zu erkennen und ihnen einen Zugang zum kommunalen Netzwerk Frühe Hilfen zu eröffnen.
- Eine Begleitung der Familien durch Lotsendienste führt zu einer erhöhten Selbstwirksamkeit der Mütter und zu einer höheren Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Hilfen.
Auf kommunaler Ebene existieren bereits bundesweit etablierte Initiativen, Projekte und Programme zu qualitätsgesicherten Lotsendiensten rund um die Geburt. Einen kleinen Ausschnitt dieser Modellprojekte wollen wir Ihnen gerne vorstellen:
KinderZUKUNFT NRW
KinderZUKUNFT NRW ist ein Präventionsmodell zum vorbeugenden Kinderschutz und zur frühen Gesundheitsförderung von Kindern aus psychosozial und/oder gesundheitlich belasteten Familien. Das Modell KinderZUKUNFT NRW wird zurzeit in 10 Geburtskliniken durchgeführt.
Weitere Informationen zu Kinderzukunft NRW finden Sie unter:
Guter Start ins Kinderleben (Rheinland-Pfalz / Bayern / Thüringen)
„Guter Start ins Kinderleben“ ist ein Modellprojekt zur frühen Förderung elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen in prekären Lebenslagen und Risikosituationen. Es dient insbesondere der Prävention von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung im frühen Lebensalter. Ziel des Modellprojekts ist es, belastete Eltern, wie etwa sehr junge und alleinerziehende Mütter, früh zu unterstützen. Für eine optimale Unterstützung und Versorgung werden interdisziplinäre Kooperationsformen und Vernetzungsstrukturen entwickelt und erprobt. Diese sollen auf bestehenden Regelstrukturen aufbauen und in bestehende Regelstrukturen eingebunden werden.
Weitere Informationen finden Sie unter:
https://mffjiv.rlp.de/de/themen/familie/guter-start-ins-kinderleben/
Werkbuch Vernetzung:
Das Programm Babylotse
Babylots*innen unterstützen in 65 Geburtskliniken und 32 Frauen- und Kinderarztpraxen in acht Bundesländern (Stand Januar 2021) besonders belastete Familien schon vor bzw. direkt nach der Entbindung.
Sie klären einen möglichen Hilfebedarf und leiten die Familien passgenau und wohnortnah in die Angebote der Frühen Hilfen und andere Hilfesysteme über. Die Lotsentätigkeit entlastet nachweislich das medizinische Personal und führt sowohl bei Patientinnen als auch den Mitarbeitern zu einer höheren Zufriedenheit.
Das Präventionsprogramm wurde 2007 von der Hamburger Treuhandstiftung SeeYou entwickelt und erreicht mittlerweile jährlich über 115.000 Familien (ca. 15 % der Geburten in Deutschland).
Der 2019 gegründete Qualitätsverbund Babylotse e.V. bündelt die bundesweiten Aktivitäten der unterschiedlichen Träger des Programms – insbesondere in den Bereichen Qualitätssicherung und –weiterentwicklung, Kommunikation und Wissenstransfer – und stimmt sie aufeinander ab. Der Verein definiert u.a. einheitliche Standards und Qualitätsindikatoren, die sich im „Qualitätsrahmen Babylotse“ wiederfinden und Grundlage für die Umsetzung des Programms sind. Die Träger, die Babylots*innen und die Programmleitungen wirken gemeinsam aktiv an der Qualitätsentwicklung mit. Die Mitglieder des Vereins können sich im Rahmen von Arbeitstreffen, Fachsymposien und themenspezifischen Sprechstunden regelmäßig austauschen und profitieren von der Erhebung verbindlicher Kennzahlen, die einmal jährlich in einem, Bericht zusammengefasst werden.
Für die Babylots*innen gibt es ein spezifisches Weiterbildungsangebot, hierzu besteht eine Kooperation zwischen der Stiftung SeeYou, dem Qualitätsverbund Babylotse e.V., der Medical School Berlin und der Medical School Hamburg. Die praktische Weiterbildung erfolgt in Regionalen Weiterbildungszentren, die theoretische in den Hochschulen. Die Weiterbildung für die Erlangung des „Fachzertifkats Babylots*in“ schließt mit einem Kolloquium ab.
Weitere Informationen finden Sie unter
https://www.seeyou-hamburg.de/babylotse/
https://qualitaetsverbund-babylotse.de/.
https://www.medicalschool-berlin.de/campus-life/babylotsen/
https://www.arts-and-social-change.de/projekte-weiterbildung/weiterbildung-